Nicht-Mehr | Noch-Nicht

Städtische Brachen als kulturelle Möglichkeitsräume. Dokumentarfilmessay, Daniel Kunle & Holger Lauinger, 2004, 82 Min

Als physisches Zeichen des Nicht-Mehr und Noch-Nicht künden die städtischen Brachen auch von der situativen Offenheit und neuen Möglichkeitsräumen. Sie könnten Ausgangspunkte einer kulturellen Erneuerung der Stadt werden. Kann das Phänomen „Stadtbrache“ in den Köpfen der Menschen positiv gewendet werden?

NICHT-MEHR | NOCH-NICHT reflektiert den Möglichkeitsraum von Brachen. Eine neue Generation kultureller Interventionen auf Brachflächen werden vorgestellt: unkonventionelle Akteure, Projekte und Visionen, die sich mit der Reaktivierung von „Urbanität“ auf verschiedenen terrains vagues beschäftigen. Dem Zuschauer werden Anregungen und Inspirationen für entstehende Freiräume geboten. Was kann die Botschaft der städtischen Brache an den Citoyen sein?

Mit: Thomas Sieverts, Wolfgang Kil, Benjamin Förster-Baldenius (Hotel Neustadt), Harald Kegler (Ferropolis), Martin Wilhelm (100qm Dietzenbach), Klaus Overmeyer (Urban Catalyst) und Philipp Oswalt (Zwischenpalastnutzung), Jaap Draismaa (De vrije Ruimte), Eva de Klerk (NDSM Werft), Christoph Schäfer & Margit Czenki (Park Fiction)

Filmdienst
Der Film enthält in der aktuellen Recherche der gegenwärtigen Situation brisanten Zündstoff, der bislang von Politik noch Verwaltung zur Kenntnis genommen wurde. Aufnahmen entleerter Stadtareale in Ost- und Westdeutschland wie in Dessau, Wolfen, Leipzig, Halle Neustadt, Salzgitter und Bremen sind ein aufschlussreiches Zeitdokument voller eindringlicher Motive mit fast apokalyptischen Dimensionen. Erst über die unergründliche Macht der Bilder bekommt das statistisch anmutende Phänomen eine überzeugende Form. Verbarrikadierte Häuser und Geschäfte, stillgelegte Bahnhöfe, abgesperrte Stadtareale, halb abgerissene Investitionsruinen. Dass das Gespenst der Leere global umgeht, zeigen Beispiele aus Manchester, Liverpool und Amsterdam. Interviews mit Städteplanern und Architekturtheoretikern verdeutlichen die Unbestimmtheit des Problems, zu dessen Lösung noch keinerlei Erfahrungen vorliegen. Architektur und Städteplanung stecken offenkundig in einer Sackgasse, da Wachstumsphasen in Schrumpfungsprozesse umschlagen.
Durch Information und Bildkraft gelingt es der Dokumentation, das Bewusstsein für diese dramatische „Epochenwende“ zu schärfen und dennoch einen Hoffnungsschimmer am Horizont aufzuzeigen.

Berliner Zeitung
Zu Beginn des Films dreht sich die Kamera einmal um sich selbst. Man sieht Gestrüpp, Gerümpel, eine Fabrikruine – Ödland, durch das der Wind pfeift. Was man eigentlich sieht ist: Nichts, Brachland, eine Leerstelle inmitten Berlins. Ein physisches Zeichen des Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Von diesen Orten wird man in den nächsten 80 Minuten viele sehen. Verbarrikadierte Geschäfte in Manchester und Liverpool, gespenstisch entleerte Stadtareale in Dessau, Wolfen, Halle Neustadt, aber auch verlassene Wohnblöcke in Bremen und Salzgitter.
Die beiden Filmemacher Daniel Kunle und Holger Lauinger zeigen in „Nicht-Mehr | Noch-Nicht“ die erschreckende Realität schrumpfender Städte, dem Negativ aller urbanistischen Ideale von funktionaler Dichte und Wachstum. Zwischen die Brachen geschnittene Interviews mit Architekten und Stadtplanern verstärken dabei den Eindruck, dass für diesen Strukturwandel kaum planerische Konzepte existieren.
Der Film belässt es aber nicht bei einer resignativen Analyse, und das macht ihn interessanter als die meisten Beiträge zum Phänomen „shrinking cities“. Kunle und Lauinger haben in Deutschland und den Niederlanden nach Beispielen gesucht, welche Möglichkeiten Brachen als Ausgangspunkt einer kulturellen Erneuerung unserer Städte bieten. Sie sind dabei auf Projekte kurzfristiger und dauerhafter Besetzung und Umnutzung gestoßen: temporäre Landnahme in Dietzenbach, Werftbesetzung durch Künstler in Amsterdam, Ferropolis, Hotel Neustadt in Halle. Beispiele für einen experimentellen Urbanismus und für Menschen, die Freiräume unkonventionell füllen – die, wie es der Architekturkritiker Wolgang Kil an einer Stelle des Films sagt, „den Luxus der Leere“ nutzen